Der Karatedo-Lehrgang hat begonnen...

25.01.2013 -

25.1.2013:
Vorgestaffelt zum eigentlichen Karatedo-Lehrgang Wels-1 gab es am Freitagabend für die Karateka von Wels-Schwanenstadt ein Spezialtraining mit Sensei Marchini und Sensei Restelli.
Mehr als 70 Vereinsmitglieder folgten der Einladung und nutzten die Gelegenheit, gemeinsam unter Leitung der Sensei aus Italien traditionelles Karate-do auf höchstem Niveau zu üben. Nach der Begrüßung und dem Aufwärmen führte Sensei Marchini die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in seiner unvergleichlichen Art schon bei den Kihon-Übungen zu an ihre Grenzen. Jene, die schon öfter an diesen Lehrgängen teilgenommen haben, wissen, daß er bei jeder einzelnen Technik höchste Konzentration in Geist und Körper auf deren korrekte und vollständige Ausführung legt.
Der Sensei erklärte uns auch die Entstehung dieses Konzeptes in der Entwicklungsgeschichte des Karate-do aus dem Okinawa-te ab etwa dem 15. Jhdt. Im Wesentlichen geht es um die Idee des ikken hissatsu ("mit einem Schlag töten"), welches das Ideal des alten okinawaischen Karate darstellt. Ziel war es, durch jahrelanges hartes Training Körper und Geist so zu entwickeln, dass es dem Kämpfer möglich wurde, im entscheidenden Augenblick all seine Energie in den einen einzigen finalen Treffer zu lenken, um somit den Kampf gegen einen augenscheinlich überlegenen Gegner doch zu bestehen.
Übertragen in unsere Übungen bedeutet dieses Verständnis, daß der Karateka in jeder Phase seines Trainings sich immer nur auf die eine Technik konzentriert, die er gerade ausführt und hierbei nach der optimalen Ausführung streben muß.

Bei dieser intensiven Art der Übung werden noch weitere Entwicklungsschritte klarer: der Körper des Übenden lernt im Lauf der Zeit eine besondere Form der "Eigenorganisation", der Geist lernt, sich in kürzester Zeit auf eine Aktion zu fokussieren, Körper und Geist werden in einer besonderen Form zum Zusammenwirken gebracht. Diese Prinzipien gelten im Übrigen nicht nur im Karate-do, sondern sie sind auf das gesamte Leben übertragbar: "...konzentriere dich in deinem gesamten Tun auf den Augenblick, es gibt kein Morgen oder später - es gibt nur den Augenblick...". Im Sh?t?-Niju-Kun von Funakoshi Gishin wird das unter anderem in Regel Nr. 10 zum Ausdruck gebracht: "Ara-yuru mono wo karate-ka seyo, soko ni myo-mi ari"..."Verbinde dein alltägliches Leben mit Karate, das ist der Zauber der Kunst".

Der Sensei sprach in diesem Zusammenhang auch noch andere (technische) Prinzipien des Karate-do: maai - die richtige Distanz, uke im Verständnis als (Angriffs-) Schlag statt als Block, die richtige Vorstellung der Zusammenarbeit beim Training mit dem Partner, etc. Zur Verdeutlichung wurde eine einfache Kihon-Kombination mit dem Partner ausgeführt, bei der alle diese Details zu berücksichtigen waren - jeder konnte dabei den Unterschied zur "normalen" Ausführung erleben.

Zum Abschluß der Abendeinheit erarbeitete der Sensei mit uns Heian shodan oyo bunkai, eine relativ einfache Form der Übung von Kata und Anwendung mit dem Partner. Dabei wurde uns sehr deutlich vor Augen geführt, welche Konzentration und Fokussierung auf die Techniken sowohl für uke und vielleicht noch mehr für tori notwendig sind, um für beide Übenden eine entsprechende Weiterentwicklung zu ermöglichen.

Schon diese erste Trainingseinheit zeigte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wieder, welche Tiefe Karate-do beinhaltet,
wenn sich der Karateka alleine nur auf diese intensive Form der Übung
einläßt - wir freuen uns auf die beiden folgenden Lehrgangstage!

26.1.2013 vormittags:
Im vormittäglichen Sonnenlicht begann um 10 Uhr pünktlich die Morgentrainingseinheit. Sensei Marchini setzte das Programm fort und stimmte die anwesenden Karateka mit der Kata kokoro taikyoku ni auf die bevorstehenden Herausforderungen ein. Im Kihon erweiterte er die Übungen um zusätzliche Techniken, wobei er wiederum auf den wesentlichen Punkt hinwies: im Sport gibt es das Element der Zeit, in den Kampfkünsten gibt es nur den Augenblick (siehe auch Zen-Meister Taisen Deshimaru in seinem Buch Zen in den Kampfkünsten Japans). Das heißt, jede Technik muß so kraftvoll ausgeführt werden, als ob sie die entscheidende Technik wäre, es darf keine andere Ausführung geben. Diese Idee ist nachvollziehbar, doch - wie jeder selbst an sich feststellen kann - ist es nicht einfach, in der Übung so konsequent und konzentriert zu sein.

Im zweiten Teil des Vormittages wurde in zwei Gruppen Kata geübt: Unter- und Mittelstufe trainierte unter Leitung von Sensei Restelli Heian Godan, mit der Oberstufe und den Dan-Trägern erarbeitete Sensei Marchini das vorher gelernte Konzept von uke als Angriffstechnik am Beispiel des Bunkai der Kata Empi. In eindrucksvoller Weise demonstrierte er, wie sich durch diesen Zugang das Handlungspektrum des Karateka plötzlich deutlich erweitert. Und auch hier zeigte sich klar, wie richtig und notwendig die Ausführung jeder Technik mit der Idee des "Augenblicks" ist. In der Übung mit dem Partner konnte jeder Übende erkennen, welche persönlichen und technischen Herausforderungen diese Stufe der Entwicklung wieder bereithält. So wird auch immer klarer, daß das do in unserer Kampfkunst unterstreicht, dass das Karate-Studium eine lebenslange Aufgabe ist. Das wird auch in der Regel 9 des Sh?t?-Niju-Kun zum Ausdruck, wo es heißt: "Karate no shugyo wa issho de aru", in der Übersetzung "Die Ausbildung im Karate umfasst Dein ganzes Leben".

26.1.2013 nachmittags:
Um 16.30 Uhr begann die Nachmittags-Trainingseinheit, in der die dargestellten Konzepte und Ideen durch die Sensei noch weiter vertieft wurden. Der erste Teil war wieder intensivem Kihon gewidmet, das alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer geistig und körperlich voll forderte, insbesondere die Ausführung der Übungen mit dem Partner und der Idee des "Augenblicks".
Im zweiten Teil wurde Kata geübt, die Unter- und Mittelstufe beschäftigte sich mit Tekki shodan und Bunkai (Sensei Restelli). Oberstufe und Dan-Träger erfuhren  unter Leitung von Sensei Marchini am Beispiel von Jitte weitere Aspekte des bisherigen Lehrgangsthemas. Der Sensei demonstrierte uns den Unterschied zwischen o waza ("große Technik") und ko waza ("kleine Technik"). Mit dieser Unterweisung sind viele von uns in eine weitere neue Erkenntnisebene eingetaucht, denn es wurde sehr schnell und vollkommen klar, das die Technik-Ausführung im Sinn von o waza noch mehr den Einsatz des gesamten Körpers erfordert, als eine Ausführung in der bisher im Training geübten "großen" Art. Es wurde auch sehr deutlich, daß es im realen Kampf darauf ankommt, die richtige Mischung aus kleinen, mittleren (chu waza)  und großen Techniken zu finden und unter diesem Betrachtungswinkel bekommen die Übungen von maai (richtige Distanz) und mikiri eine noch höheren Stellenwert.

Im Anschluss an diese Nachmittagseinheit gab es dann noch ein mehr als einstündiges Bunkai-Spezialtraining für Oberstufe und Dan-Träger. Sensei Marchini stellte das Konzept von oyo bunkai in den Mittelpunkt und übte mit uns Heian shodan bis heian godan sowie tekki shodan oyo bunkai, jeweils omote und ura. Es zeigte sich dabei, daß viele Karateka diese Form der Übung der Anwendung nicht gewohnt sind und daher bei der Art des Trainings noch viel mehr Konzentration benötigen, als sonst schon in einer ernsthaften Übungsstunde erforderlich ist. Aber die Erkenntnis ist eindeutig: diese Art der Auseinandersetzung mit unserer Kampfkunst öffnet den Horizont des Karateka noch viel mehr hin zum Verstehen  der Breite und Tiefe jeder einzelnen Kata als thematisch in sich geschlossenes "Kampfsystem" mit besonderen Schwerpunkten. Die Art der Übung zeigt aber auch sehr eindrucksvoll, welche Wegstrecken im Karate-do noch vor uns liegen und durch fortwährende Übung bewältigt werden wollen. Gerade das ist aber das Schöne und Motivierende im Sinn der schon weiter oben angeführten Regel 9 des Sh?t?-Niju-Kun.

27.1.2013...die letzte Einheit des Lehrganges:
Sensei Marchini setzt an den Ergebnissen des Vortages an und erweitert das Kihon: zusätzlich zu den Kombinationen der beiden vergangenen Tage kommen nun noch Techniken mit der offenen Hand (haito, shuto), sowie mae und mawashi geri. Nach der Vorübung werden die Kombinationen mit dem Partner ausgeführt, wobei wiederum ganz wesentlicher Stellenwert auf mikiri gelegt wird, dem in jeder Situation schnellen und richtigen Einschätzen der "persönlichen Distanz" zum Gegner. Diese Idee hängt untrennbar mit dem Konzept von maai, der korrekten Distanz zusammen. Es gibt für jede Technik die korrekte Distanz, mikiri ist nun die Fähigkeit des Karateka, diese Distanz basierend auf den persönlichen Voraussetzungen (Größe, Reichweite, etc.) und abhängig vom Gegner rasch zu finden und die entsprechende Position einzunehmen. Die Umsetzung von mikiri erfordert in jeder Phase der Übung höchste Konzentration und den Willen, die Technik mit voller Kraft auszuführen, ohne den Partner zu verletzen, aber sonst gibt es gerade in diesem Bereich keine Entwicklung.

Der Sensei erklärte und demonstrierte uns im Rahmen der Übungen noch ein Detail, die Unterscheidung des allseits bekannten hiki te (Zurückziehen der Faust in die Hüfte) und iki te, dem "Bereitmachen der Hand" für die nächste Technik. Beides liegt sehr eng zusammen, und doch macht es einen fundamentalen Unterschied. ob die Hand einfach nur rasch zur Hüfte zurückgezogen wird oder ob die Faust und der Geist dabei auch bereit gemacht werden für die nächste Technik...
Zum Abschluss des Kihon-Teiles übten wir noch gemeinsam Kokoro taikyoku ichi (Unterstufe), Kokoro taikyoku ni (Mittel- und Oberstufe), sowie Kokoro taikyoku san.

Sensei Marchini erklärte uns nach diesen je nach Graduierung unterschiedlichen Übungen einen zusätzlichen Aspekt: er sprach von den drei grundlegenden Phasen im Lernen: in der ersten Phase wird eine Aufgabe oder ein Thema grundsätzlich erlernt, in der zweiten Phase dann vertieft, in der dritten Phase kann es dann noch zusätzlich erforscht werden. Im Karate-do wird dieses Verständnis in den drei Stufen des Shu-Ha-Ri zum Ausdruck gebracht. Vereinfacht dargestellt bedeutet das, daß in der Shu-Stufe ("Gehorsam gegenüber der Tradition") das grundlegende Lernen von Techniken erfolgt. In der Ha-Stufe ("Befreiung vom System") kommt es zur Vertiefung und in der Ri-Stufe ("Freiheit, Transzendenz in der Tradition") erfolgt dann das Verlassen der vorigen Erkenntnisebene und der Übergang zur Erforschung. Die innere Einstellung des Übenden ist entscheidend dafür, ob Shu Ha Ri zum Tragen kommt.

Auf das bekannte Kata-System des Karate-do übertragen könnte man beispielhaft die Heian Kata der Shu-Stufe zuordnen, Jitte oder Empi der Ha-Stufe und etwa Meikyo der Ri-Ebene. Unter diesem Aspekt erarbeitete der Sensei mit den Dan-Trägern beispielhaft die Kata Meikyo, wobei den meisten Lehrgangsteilnehmern in kurzer Zeit Richtigkeit und Bedeutung der vorangegangenen Erklärung eröffnet wurde.

Das gesamte Lehrgangswochenende stand unter dem Generalthema der Suche nach der "optimalen Technik". Eine optimale Technik ist nicht erreichbar, aber schon das dauernde Streben danach führt zu einem vollkommen anderen Trainingsverständnis. Unter diesem Aspekt der Erkenntnis wird der Karateka einen völlig anderen Weg gehen, als wenn er die Technik zwar mit häufigen Wiederholungen ausführt, aber eben nur ausführt. Es zeigte sich wiederum sehr eindrucksvoll, in welch enger Verbindung Körper und Geist in der Kampfkunst sind und wie wichtig z.B. auch die Konzentration auf den Augenblick ist.

Es war wiederum ein in jeder Hinsicht sehr anstrengendes Trainingswochenende, doch ist jedesmal ein Hochgenuß und etwas ganz Besonderes, unter Leitung von Sensei Marchini üben zu dürfen. Seine Art des Karate-do ist wahre Kampfkunst, das ist in jeder Sekunde des Lehrganges sichtbar und vor allem spürbar. Dies  zeigen auch die Rückmeldungen der Eltern oder Zuschauer auf der Tribüne, die ebenfalls in einer ungewohnten Art und Weise von der Kraft und Energie, die während der gemeinsamen Übung im Dojo herrscht "gefangen" werden.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei Sensei Roth für die Ermöglichung des Lehrganges, bei Stefan Mayr für die Organisation und bei Sensei Marchini und Restelli für ihre unvergleichliche Art des Trainings und der Begleitung am Weg des Karate. Ein besonderes Dankeschön gebührt aber auch Adila Herac und ihren Helferinnen, die ganz im Sinne von Kokoro ("mit ganzem Herzen") am Samstag und Sonntag Mittag Speisen vorbereitet haben, die höchste Qualitätsebenen erreicht haben.

Wir freuen uns schon auf den nächsten Karate-do-Lehrgang mit den Sensei aus Mailand im Juni 2013.



Herzlichen Dank an Pepi Derflinger für die fotografische Begleitung des Lehrganges!